Müdigkeit aber überspringen, wächst es zum inneren Wider-
stand oder gar zumEkel an der Aufgabe, die uns ermüdet.
Bei der Begleitung mache ich noch eine andere Erfahrung
mit Müdigkeit. Manchmal werde ich im Gespräch mit Klien-
ten müde. Früher habe ich die Schuld immer bei mir gesucht.
Ich dachte, ich habe zu wenig geschlafen. Und ich griff dann
oft zum Kaffee, um meine Müdigkeit zu überwinden. Doch
im Gespräch mit den Teamkollegen im Recollectiohaus er-
kannte ich, dass meine Müdigkeit immer ein Indiz dafür ist,
dass der Klient am Thema vorbeiredet. Er spricht nicht über
das, was ihn wirklich bewegt. Er spricht über interessante
Dinge, um von dem abzulenken, worum es eigentlich geht,
um seine innere Wahrheit und um die Bereitschaft, sich mit
seiner Wahrheit anzunehmen und neue Wege in seinem per-
sönlichen oder beruflichen Leben zu gehen. Manchmal ist die
Müdigkeit inTeamsitzungen einZeichen, dasswir amThema
vorbeireden. Und sie könnte ein Impuls sein, neueWege in der
Firma zu gehen und nicht immer um die gleichen ungelösten
Probleme zu kreisen.
Umgang mit der Müdigkeit
Wenn ich müde vom Büro in meine Klosterzelle komme, lege
ichmich zehnMinuten aufs Bett und genieße die Schwere der
Müdigkeit. Ich sage mir: „Ich habe für Gott und dieMenschen
gearbeitet. Jetzt genieße ich, dass ich mal nichts tun muss.“
Das erfrischt mich. Und danach habe ich wieder Lust, etwas
zu lesen oder zu schreiben.
Wir sollen gut mit unserer Müdigkeit umgehen. Sie zeigt
uns, dasswir auf unserenLeib und unsere Seele achten sollen.
Es gibt eine Müdigkeit, die macht uns offen für das Eigent-
liche. Peter Handke hat von dieser klaräugigen Müdigkeit
geschrieben. Nach einer Wanderung hat er sich müde hin-
gesetzt. Da fühlte er sich auf einmal eins mit allem, was ist.
Die Müdigkeit befreit uns von der Tendenz, uns nur durch die
Leistung zu definieren. Wir gönnen es uns, die Müdigkeit zu
genießen und einmal nichts zu tun. Wenn wir die Müdigkeit
nicht überspringen, sondern uns von ihr einladen lassen, uns
zu erholen, uns das zu holen, was wir gerade brauchen, dann
bekommen wir auch wieder neue Lust zu arbeiten. Wenn wir
jedoch dieMüdigkeit überspringen, wird sie sich immer tiefer
in uns festsetzen und uns die Lust an der Arbeit nehmen.
So wünsche ich allen Lesern und Leserinnen, dass sie gut
mit ihrer Müdigkeit umgehen, dass sie die Müdigkeit als Ein-
ladung verstehen, sich das zu holen, was sie gerade brauchen:
Erholung, Stille, Schlaf oder aber dass sie sich von derMüdig-
keit die Augen öffnen lassen, um zu erkennen, was schiefläuft
und was sie müde werden lässt. Vom guten Umgang mit der
Müdigkeit hängt ab, ob wir auf ein Burn-out zusteuern oder
aber ob wir uns immer wieder zu neuer Lust am Leben anre-
gen lassen.
Zur Person
Dr. theol. Anselm Grün OSB ist wirtschaftlicher Leiter der Benediktiner-
Abtei Münsterschwarzach (Bayern) und Autor. Bis dato sind von ihm
über 300 Titel in einer Gesamtauflage von 14 Millionen Exemplaren
erschienen, die in mehr als 30 Sprachen übersetzt wurden.
„Wir sollen gut
mit unsererMüdigkeit
umgehen. Sie zeigt uns,
dass wir auf unseren
Leib und unsere Seele
achten sollen.“
© Michael Rathmayr
33