gastkommentar
Ich bin müde
Müde sein ist etwas anderes als Burn-out. Es gibt eine gute und eine schlechte Müdigkeit.
Die gute Müdigkeit lädt mich ein, mich zu erholen. Ich kann sie genießen, wenn ich von der Arbeit
müde nach Hause komme. Dann gönne ich mir, es mir bequem zu machen und mich im Schlaf
auszuruhen. Es gibt aber auch die negative Müdigkeit, in der ich unzufrieden bin.
Ich bin müde, aber ich kann nicht schlafen.
Text: Anselm Grün
D
ie Müdigkeit hat immer einen Sinn. Sie zeigt mir
entweder, dass ich genügend gearbeitet habe und
mir jetzt eine Pause gönnen soll. Oder aber sie
verweist mich darauf, dass wir gerade am Thema
vorbeireden oder dass wir in der Firma nicht an den Themen
dran sind, die unser Unternehmen eigentlich voranbringen
sollten. Peter Handke, der österreichische Dichter, spricht
von einer bitteren Müdigkeit, in der wir den andern zynisch
verletzen, und einer klaräugigenMüdigkeit, die uns die Augen
öffnet für das, was eigentlich gerade dran ist.
Arbeit allein ist nicht der Grund
Heute leiden viele Menschen unter Burn-out. Burn-out hat
viele Ursachen. Wenn jemand im Gespräch von seinem Burn-
out erzählt, so gibt er mir meistens als Begründung an: Ich
habe zu viel gearbeitet. Doch die Arbeit allein ist nicht der
Grund von Burn-out. Vielleicht ist es die Maßlosigkeit. Aber
dann ist die Frage, warum ich maßlos arbeite. Möchte ich un-
bedingt zeigen, dass ichunbegrenzt belastbar bin? Sage ichnie
nein, weil ich Angst habe, die Stelle zu verlieren? Oder kann
ich nicht nein sagen, aus Angst, ich könnte jemanden verlet-
zen? Oder möchte ich es immer allen recht machen? Dann hat
meineMaßlosigkeit ihren Grund in inneren Haltungen.
Der wichtigste Grund von Burn-out sind die inneren Ein-
stellungen: Ich setzemich bei allem, was ich tue, unter Druck.
Ich denke ständig daran, was andere über meine Arbeit den-
ken. Und ichmöchte alles perfekt machen. Ein zweiter Grund
für Burn-out ist, dass ich nicht meinem inneren Bild entspre-
chend arbeite, sondern dass ich ständig die Erwartungen der
anderen erfüllen möchte. Wenn ich nur die Erwartungen an-
derer erfülle, verliere ich viel Energie.
Ein dritter Grund: Ich brauche zu viel Energie, umanmei-
ner Fassade zu arbeiten. Man hat Angst, dass die anderen die
innere Unsicherheit sehen. Also baue ich eine sichere Fassa-
de auf. Aber die verschlingt viel Energie. Diese Energie fehlt
mir dann bei der Arbeit. Ein vierter Grund für Burn-out ist,
dass wir die Müdigkeit überspringen. Wir meinen, wir müss-
ten immer fit sein. So unterdrückenwir unsereMüdigkeit mit
Kaffee oder mit anderen Putschmitteln. Doch dann wird die
Müdigkeit zur chronischen Müdigkeit und irgendwann zu
Burn-out. Und ein fünfter Grund liegt in den äußeren Ursa-
chen, wenn etwa in der Abteilung ein schlechtes Betriebskli-
ma herrscht, wenn ich gemobbt werde oder wenn meine Ar-
beit sinnlos erscheint.
Müde werden im Beruf
Oft höre ich von Menschen, die sich für ihre Firma mit gro-
ßemEifer engagiert haben: „Ich bin müde. Ich habe so viel für
die Firma getan. Aber es hilft nicht weiter. Ich habe mich für
ein besseres Betriebsklima eingesetzt, aber es wird immer
rauer bei uns.“ Andere haben gemeinsam mit Kollegen Ideen
entwickelt, wie die Firma auf Dauer gut weiterarbeiten könn-
te. Aber sie wurden nicht gehört.
Ein Mann, der jahrelang die Firma gestützt hat, ist müde
geworden, weil sein neuer Chef nur noch auf das Geld sieht
und die Qualität seiner Mitarbeiter übersieht. Der Mann
stand für das gute Betriebsklima. Doch den neuen Chef inter-
essieren dieMitarbeiter nicht. Ihmgeht es allein umdas Geld.
Er sieht nicht, dass das Betriebsergebnis nicht besser wird,
wenn er die Mitarbeiter nur antreibt, ohne sie in ihremWert
zu achten. Der Mann sieht, dass das in die falsche Richtung
läuft. Aber all seine Versuche, den Chef darauf hinzuweisen,
gehen ins Leere. Das macht müde. Irgendwann hat man dann
keine Lust mehr. Man arbeitet noch so viel es sein muss und
macht Dienst nach Vorschrift. Aber die Kraft und der Idea-
lismus gehen verloren. Müdigkeit breitet sich nicht nur bei
diesemMitarbeiter aus, sondern bei vielen anderen.
Ein Betriebsleiter sagte mir: „Ich bin einfach müde, täg-
lich die Konflikte zu schlichten, mich immer wieder diesen
banalen Problemen zuzuwenden. Ich bin es leid, den tägli-
chen Kleinkram immer wieder neu ordnen zu müssen.“ Oder
ein Begleiter meint: „Ich bin so müde. Ich möchte die Proble-
me der Menschen nicht mehr hören.“
Die Müdigkeit zeigt uns an, dass wir unsere eigene Gren-
ze besser beachten sollen. Wir können nicht ungestraft unse-
re eigenen Grenzen überspringen. Die Gefühle vonMüdigkeit
oder Widerwillen sind immer Anzeichen, dass wir wieder
mehr mit uns selbst in Berührung kommen sollen. Wenn wir
die Müdigkeit als Impuls unserer Seele sehen, dann sind wir
dankbar dafür und können gut damit umgehen. Wir sorgen
mehr für uns. Dann haben wir auch wieder Lust, uns den
Problemen anderer zuzuwenden. Wenn wir das Gefühl der
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